FĂĽr ClimbAID im Libanon
09 / 21
@Adriana Stöhr
Adriana Stöhr
Adriana Stöhr
Ein Erfahrungsbericht von Adriana Stöhr, Textile Engineer Textile Safety Products, Climbing Equipment bei Mammut.
Vor etwa vier Jahren bin ich zum ersten Mal allein durch Teile des Nahen Ostens gereist. Das Entdecken der facettenreichen Kulturen, das köstliche Essen und die Begegnungen mit den unglaublich warmherzigen Einheimischen machten diese Reise zu einem meiner bisher schönsten Abenteuer.
Mammut wollte einem Mitarbeiter:in die Möglichkeit geben, ClimbAID ↗ vor Ort zu unterstützen, ihre Arbeit kennenzulernen und einen Beitrag zur Partnerschaft und ihrer Mission im Libanon zu leisten. Als ich das hörte, wusste ich, dass ich mich unbedingt bewerben musste!
Woche 1
Heute ist es eine Woche her, seit ich mit einem Koffer voller Medikamente (mehr über das tägliche Leben im Libanon in einem der nächsten Beiträge) und Kletterausrüstung am Flughafen von Beirut angekommen bin.
Meine kurze Zeit hier hat mich bereits gelehrt:
Ja, vom libanesischen Essen kann ich nie genug bekommen
Es kann bis zu 5 Stunden dauern, Benzin fĂĽr das Auto zu besorgen
Eine ununterbrochene Stromversorgung ist ein Luxus, den die meisten hier nicht haben
Verkehrsregeln sind nur Vorschläge
Die meisten Sprach-Apps sind nutzlos, um den lokalen arabischen Dialekt zu lernen
Der Libanon ist ein Viertel so gross wie die Schweiz, hat etwa 4.5 Millionen Einwohner und bietet gleichzeitig 1.5 bis 2 Millionen FlĂĽchtlingen eine Heimat
18 anerkannte Religionsgemeinschaften leben im ganzen Land nebeneinander
Die Arbeit von ClimbAID hat einen spürbaren Einfluss sowohl auf die Teilnehmenden als auch auf die lokale Bevölkerung.
und vor allem: nichts hier ist vorhersehbar!
Ich bin begeistert von der Möglichkeit, meine Leidenschaft für das Klettern mit der ClimbAID Familie zu teilen. Ich freue mich darauf, sie besser kennenzulernen und neue Möglichkeiten zu finden, das ClimbAID Team in den nächsten drei Wochen zu unterstützen.
Wenn ihr also genauso gespannt seid wie ich, was ich in den nächsten Wochen mit ClimbAID im Libanon erleben werde, dann lest doch auch meine nächsten wöchentlichen Updates!
Und vergesst nicht ClimbAID auch auf Facebook ↗ und Instagram ↗ zu folgen!
Man sieht sich am Felsen,
Adriana
Woche 2
Besucht man ein fremdes Land, muss man bestimmte Dinge gesehen oder erlebt haben, sonst ist man sozusagen «noch nicht da gewesen». Laut den anderen internationalen Freiwilligen ist das Initiationsritual für den Libanon zurzeit eine Lebensmittelvergiftung. Da ich mich für einen authentischen Aufenthalt entschieden habe, habe ich mir eine gute Portion Fieber und Magenbeschwerden eingefangen, die fast die gesamte zweite Woche meines Aufenthalts andauerten... zum Glück hatte ich genügend Medizin dabei!
Das Stadtzentrum von Chtoura, das Handelszentrum des Bekaa-Tals und Sitz des ClimbAID-Hauses
Lebensmittelvergiftungen sind leider für viele Libanesinnen und Libanesen zu einem unangenehmen Bestandteil ihres Alltags geworden. Das ist eines der vielen Symptome der aktuellen Wirtschaftskrise des Landes. Einem aktuellen Bericht der Weltbank zufolge, erlitt der Libanon einer der drei schlimmsten Wirtschaftskrisen seit dem 19. Jahrhundert. Die Landeswährung hat seit Ende 2019 rund 90 % ihres Wertes verloren, und es fehlt an Währungsreserven, die für die Einfuhr lebenswichtiger Güter wie Treibstoff benötigt werden. Die Treibstoffknappheit führt nicht nur zu kilometerlangen Warteschlangen an Tankstellen, sondern auch zu landesweiten Stromausfällen, da die libanesischen Kraftwerke auf Treibstoff angewiesen sind, um zu funktionieren. In unserer Wohnung haben wir täglich nur etwa 5 bis 6 Stunden Strom. Das bedeutet, dass es fast unmöglich ist, Lebensmittel zu kühlen, was dazu führt, dass sie schlecht werden und der Magen hin und wieder einen Schlag einstecken muss.
"Beim Einstieg sagten sie, dass ClimbAID für sie wie eine zweite Familie ist. Es ist ein sicherer Ort, an dem sie sich gestärkt fühlen können."
Ein weiterer besorgniserregender Aspekt der Krise ist die Zunahme von kleinen Diebstählen, die immer kreativer werden. Erst neulich blieb unser Auto in einem Schacht an der Ausfahrt der Autobahn in Beirut stecken. Jemand hatte den Deckel entfernt, um das Metall zu verkaufen. Zum Glück hat uns ein freundlicher Einheimischer mit wenig Aufwand herausgezogen. Das Reifenwechseln ist zwangsläufig eine neue Fähigkeit von mir geworden. Dies sind nur einige der vielen Probleme, mit denen sich die Menschen im Libanon täglich auseinandersetzen müssen.
Meine Mitbewohnerin Raelyn und ich haben uns auf alle Ereignisse vorbereitet - auch auf einen Reifenwechsel
Das Erleben dieser Missstände stellt einen noch grösseren Kontrast zu meinem neuen Arbeitsplatz dar. Die ARC, die permanente Kletterwand von ClimbAID, befindet sich im Bekaa-Tal, etwa 50 km landeinwärts von Beirut und 20 km von der syrischen Grenze entfernt. Auf dem landschaftlich ansprechenden Gelände von Arcenciel, einer libanesischen NGO, schafft die ARC eine sichere und einladende Umgebung für junge Menschen in der Bekaa. Umgeben von grossen Bäumen und einem grünen Garten bietet die bunte bogenförmige Kletterwand eine beruhigende Atmosphäre für die zahlreichen Aktivitäten von ClimbAID. Sie wirkt wie eine Oase, abgeschirmt von den Problemen der Aussenwelt.
Aber das ist nur einer der vielen Gründe, warum die Teilnehmenden von ClimbAID so gerne hierherkommen. Die ARC ist ein Ort, an dem sie sich entspannen und ihren Alltag vergessen können – ein Ort, an dem sie Freunde treffen, die Unsicherheit in ihrem Leben vergessen und einfach klettern können.
Eines der Dinge, die ich am meisten genossen habe, war die Unterstützung bei der Gründung einer Bouldergruppe nur für Frauen. Der erste Kurs fand diese Woche statt, und es war grossartig. Insgesamt nahmen 8 syrische und libanesische Mädchen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren teil. Beim Einstieg sagten sie, dass ClimbAID für sie wie eine zweite Familie ist. Es ist ein sicherer Ort, an dem sie sich gestärkt fühlen können. Die Atmosphäre war fröhlich und einladend, so dass ich mich sofort von der Gruppe akzeptiert fühlte. Es war inspirierend zu sehen, wie hart sie an ihren Projekten arbeiten und ihre Erfolge gemeinsam feiern. Ich kann es kaum erwarten, die nächsten Sessions zu planen und daran teilzunehmen!
Woche 3: Das Team und die Sessions – eine Woche mit vielen Premieren
Die Tage vergehen wie im Flug, und ich bin schockiert, dass ich schon die dritte Woche im Libanon bin.
Um ehrlich zu sein, Arabisch zu lernen ist eine ziemliche Herausforderung. Aber ich kann mich vorstellen und ein paar zufällige Sätze in Unterhaltungen einwerfen. Lustigerweise werden meine Bemühungen oft mit echten Arabischkenntnissen verwechselt, so dass die Gespräche immer mit einem nervösen Lachen und einem entschuldigenden Lächeln meinerseits enden. Aber wozu haben wir eigentlich Hände und Füsse, wenn nicht zur Verständigung, habe ich recht? Glücklicherweise sprechen meine Mitbewohnerinnen Matilda (Praktikantin bei ClimbAID) und Raelyn (Langzeitfreiwillige) beide recht gut Arabisch. Das macht das Leben im Bekaa-Tal sehr viel einfacher. Aber wusstest du eigentlich, dass viele Libanes:innen zwei- oder sogar dreisprachig sind? Je nach Region und familiärem Hintergrund wachsen viele mit Arabisch, Französisch und Englisch auf.
Zu meinem Vorteil kommuniziert das ClimbAID-Team hauptsächlich auf Englisch. Neben mir besteht das Team vor Ort derzeit aus fünf weiteren Personen: Charlie, der libanesische Projektleiter, der Vermittler Yehya aus Syrien und Elsa, ebenfalls Libanesin, die als Freiwillige Sessions leitet und bei der Kommunikation in den sozialen Medien unterstützt. Matilda aus Deutschland und Raelyn aus den Vereinigten Staaten unterstützen das lokale Team für 6 bzw. 3 Monate mit ihren Kenntnissen in der Sozial- und NGO-Arbeit. Ausserdem kann ClimbAID beim Klettern und bei der Einrichtung von Routen auf ein engagiertes lokales Freiwilligenteam mit 15 jungen Frauen und Männern zählen.
"Es war schön, die stolzen Gesichter zu sehen und zu erleben, wie dieses Programm starke Bindungen innerhalb der Gruppe geschaffen hat – unabhängig von Herkunft und Geschlecht."
Jede Woche werden zum Beispiel alte Routen von der Kletterwand abgenommen, die Griffe gereinigt und neue Routen eingerichtet. Ich war sehr nervös, als mir gesagt wurde, ich solle zum ersten Mal eine Route einrichten, aber es stellte sich heraus, dass es eine super tolle Aufgabe war und das Endergebnis ziemlich gut geworden ist! Nichtsdestotrotz glaube ich, dass die Teilnahme an den Sessions und die Interaktion mit den Teilnehmenden die Höhepunkte für jeden einzelnen im Team sind.
Diese Woche hatten wir ein ganz besonderes Ereignis. Eine der YouCLIMB-Gruppen hat den 10-teiligen Kurs abgeschlossen. Das Ziel des YouCLIMB-Programms ist es, den Teilnehmenden unter anderem Teamarbeit, Kommunikation, Problemlösungs- und Führungskompetenz sowie Vertrauen durch Klettern zu vermitteln. Das Programm beinhaltet eine Menge unterhaltsamer Lernspiele und Gruppendiskussionen über die oben genannten Ziele. Um ihre Leistungen zu feiern und sie in der ClimbAID-Familie willkommen zu heissen, hielten wir eine kleine Zeremonie ab, bei der wir ihnen persönliche Zertifikate überreichten, Dabke tanzten (einen typischen libanesischen Volkstanz) und Tee und Früchte servierten. Es war schön, die stolzen Gesichter zu sehen und zu erleben, wie dieses Programm starke Bindungen innerhalb der Gruppe geschaffen hat – unabhängig von Herkunft und Geschlecht. Ich hoffe, dass viele von ihnen weiter klettern werden und sich vielleicht sogar für das ClimbAID-Freiwilligenprogramm bewerben.
Apropos Klettern: Es ist leider schon mein letztes Wochenende mit der ClimbAID-Gemeinschaft, die mir so ans Herz gewachsen ist. Ausserdem ist Beat, der Gründer von ClimbAID, gerade aus der Schweiz angekommen. Ich bin gespannt, auch ihn besser kennen zu lernen! Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zu unseren Lieblingsfelsen rund um Tannourine und Beit Chlela, etwa 75 km nördlich von Beirut. Es ist eine ziemlich lange Fahrt, aber die verrückten Tuffsteinformationen und bunten Kalksteinfelsen lassen das Herz eines jeden Kletterers höher schlagen.
Nach 2 Tagen anstrengender Kletterpartien machen wir uns auf den Heimweg. Es ist bereits dunkel, aber wir wollen an der Küste anhalten, um Matildas und Yehyas selbstgebackenen Apfelkuchen am Meer zu essen. Beat führt uns zu seinem Lieblingsstrand in der Nähe von Batroun. Es ist einer der wenigen verbliebenen öffentlichen Strände, ein Abschnitt mit felsigen Klippen, die sich perfekt zum Klettern und Springen eignen – allerdings nicht bei Nacht. Mit Stirnlampen ausgerüstet suchen wir uns ein Plätzchen für unseren nächtlichen Snack und schauen den Wellen zu, die uns umgeben. Das war wohl die schönste Art, diese 3. Woche zu beenden.
©Juman Sayegh
Woche 4: Die letzte Woche
Ich versuche immer noch, beim Besteigen des Flugzeugs nach Hause zu Atem zu kommen, aber ich habe es geschafft! Das Sprinten, um irgendein Transportmittel zu erwischen, wird wohl immer mein bestes Kardiotraining bleiben. Aber das war es wert: In Beirut habe ich in letzter Minute noch ein paar schöne syrische Stoffe entdeckt, die ich einfach nicht zurücklassen konnte, und so musste ich meine Abflugzeit ein wenig herausfordern.
Im Flugzeug fand ich Zeit, um auf meine ereignisreiche letzte Woche im Bekaa-Tal zurĂĽckzublicken.
In dieser Woche waren wir nicht nur einmal, sondern gleich zweimal zu einem arabischen Abendessen eingeladen. Und ich kann euch sagen, es war ein Traum! Die Familien von Yehya, unserem Teamkollegen, und Hassan, einem ClimbAID-Teilnehmer, machten sich die Mühe, köstliche, traditionelle Gerichte für uns zuzubereiten. Es war überwältigend zu erleben, mit welcher Herzlichkeit wir empfangen wurden und wie viel Zeit und Mühe in unsere Bewirtung gesteckt wurde. Es war ein wirklich unvergessliches Erlebnis, und ich kann es kaum erwarten, einige Gerichte, die ich dort probiert habe, zu Hause nachzukochen!
Unvermeidlich kam mein letzter Tag bei ClimbAID. Ich nahm an einer letzten ACADEMY-Session teil, bevor ich nach Beirut abreiste, um eine letzte Nacht mit meinen lieben Teamkollegen zu verbringen. Der Schwerpunkt der ACADEMY liegt auf der Vermittlung von Klettertechniken und richtigen Trainingsmethoden für Teilnehmende, die sich als Kletterer weiterentwickeln wollen. Dies ist auch eine der wenigen Trainingseinheiten pro Woche, bei denen das Team aktiv mit den Teilnehmenden trainiert. Die lustigen Aufwärmspiele und das Zusammensein mit den Teilnehmenden bei den herausfordernden Aufgaben waren immer ein Riesenspass, und ich habe es genossen, am Ende den kurzen Yoga-Flow zu leiten.
"Ich bin zutiefst dankbar für die Möglichkeit, all diese inspirierenden Menschen kennengelernt zu haben."
Nach vier Wochen im Projekt bin ich wirklich davon überzeugt, dass das positive Umfeld und der Zusammenhalt, den ClimbAID fördert, sich positiv auf die Teilnehmenden auswirkt und das Beste in mir zum Vorschein bringt. Ich war sprachlos und zu Tränen gerührt, als die Teilnehmenden mit Blumen, selbstgebastelten Geschenken und Briefen vorbeikamen, um mir an meinem letzten Tag Tschüss zu sagen. Ich bin gekommen, um meine Leidenschaft für das Klettern zu teilen, und habe im Gegenzug so viel Freundlichkeit und Wertschätzung erfahren, dass ich nur sagen kann: Danke für diese unvergessliche Zeit! Ich bin zutiefst dankbar für die Möglichkeit, all diese inspirierenden Menschen kennengelernt zu haben und die Schönheiten und Herausforderungen des Lebens im Libanon zu erfahren.
Vielen Dank, Mammut und ClimbAID, fĂĽr diese einzigartige Gelegenheit!
Ich freue mich darauf, Teil der ClimbAID-Familie zu bleiben, da ich plane, in Zukunft als Freiwillige fĂĽr ClimbAID in der Schweiz mitzuarbeiten.
ClimbAID ist eine NGO aus der Schweiz, die auf Spenden angewiesen ist, um ihre Projekte durchführen zu können. Wenn du die Projekte unterstützen möchtest, erfährst du hier ↗ mehr.